Gedanken lesen ist nicht meine Stärke – Theory of Mind im Autismus-Spektrum

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind tiefgreifende Entwicklungsbesonderheiten, die sich vor allem in der sozialen Interaktion, Kommunikation und im Verhalten zeigen. Ein zentrales Konzept zur Erklärung sozialer Herausforderungen bei Autismus ist die sogenannte Theory of Mind – also die Fähigkeit, sich vorzustellen, was andere denken, fühlen oder beabsichtigen. Menschen im Autismus-Spektrum tun sich in diesem Bereich häufig schwer – und genau das führt oft zu Missverständnissen und Irritationen im Miteinander.

Was ist die Theory of Mind?

Theory of Mind (ToM) beschreibt die kognitive Fähigkeit, anderen Menschen eigene Gedanken, Wünsche, Absichten oder Gefühle zuzuschreiben – und zu erkennen, dass sich diese von den eigenen unterscheiden können. Diese Fähigkeit ist grundlegend für soziale Interaktionen: Sie ermöglicht, nonverbale Signale zu deuten, auf Stimmungen zu reagieren oder auch Ironie zu verstehen.

Ein klassisches Beispiel aus der Forschung ist der sogenannte False-Belief-Test. In diesem Test beobachtet man eine Szene, in der eine Figur einen Gegenstand an einem bestimmten Ort versteckt und dann den Raum verlässt. Währenddessen wird der Gegenstand heimlich an einen anderen Ort verlegt. Wird nun gefragt, wo die Figur den Gegenstand suchen wird, zeigt sich, ob das Kind oder der Erwachsene versteht, dass die Figur eine „falsche Annahme“ hat. Menschen mit einer ausgeprägten Theory of Mind antworten, dass die Figur am ursprünglichen Ort suchen wird – weil sie nicht wissen kann, dass der Gegenstand woanders liegt. Wer Schwierigkeiten mit der Theory of Mind hat, verwechselt oft die eigene Perspektive mit der der anderen und gibt den tatsächlichen Ort an.

Theory of Mind bei Autismus

Bei vielen Menschen im Autismus-Spektrum ist die Theory of Mind verzögert entwickelt oder funktioniert auf eine andere Weise. Das äußert sich in verschiedenen Bereichen:

  • Schwierigkeiten beim Deuten von Mimik und Körpersprache
  • Probleme mit Ironie, Lügen oder versteckten Bedeutungen
  • Soziale Unsicherheiten oder Rückzüge
  • Missverständnisse in Gesprächen, etwa durch fehlende Kontextanpassung

Tony Attwood, einer der renommiertesten Autismus-Experten weltweit, beschreibt in seinen Arbeiten, dass viele autistische Menschen nicht nur Schwierigkeiten haben, sich in andere hineinzuversetzen – sondern oft auch davon ausgehen, dass andere ihre eigenen Gedanken und Gefühle „einfach wissen“. Diese Annahme, dass das Gegenüber die eigenen Bedürfnisse oder Sichtweisen intuitiv erkennt, führt häufig zu Frustration: Wenn andere nicht entsprechend reagieren oder sich „unverständlich“ verhalten, entsteht leicht das Gefühl von Ablehnung oder Unachtsamkeit – obwohl schlicht Informationen fehlen.

Attwood betont jedoch, dass viele Menschen mit Autismus sehr wohl lernen können, Theory of Mind zu entwickeln – allerdings meist nicht intuitiv, sondern kognitiv. Sie beobachten, analysieren, trainieren soziale Muster und reagieren bewusst, nicht automatisch. Das kostet viel Energie und kann zu Erschöpfung oder sozialem Rückzug führen.

In der Forschung wird heute zunehmend anerkannt, dass Theory of Mind zwar ein wichtiger Baustein ist, aber nicht alle Phänomene im Autismus erklären kann. Damian Milton etwa spricht vom Double Empathy Problem – dem gegenseitigen Unverständnis zwischen Autisten und Nicht-Autisten. Er stellt fest: Auch neurotypische Menschen haben oft Mühe, sich in autistische Perspektiven einzufühlen. Kommunikation scheitert also nicht einseitig – sondern an einem mangelnden gemeinsamen Bezugsrahmen.

Zudem wird kritisiert, dass viele Tests zur Theory of Mind sprachlich oder kognitiv überfrachtet sind. Sie messen womöglich nicht das Einfühlungsvermögen an sich, sondern Sprachverarbeitung, Aufmerksamkeitssteuerung oder logisches Denken. Viele autistische Menschen entwickeln außerdem mit der Zeit eigene Strategien zur Kompensation, etwa durch Routinen, Spiegelung oder logische Regelwerke im sozialen Verhalten.

Die Theory of Mind ist ein hilfreiches Konzept, um bestimmte soziale Besonderheiten bei Autismus zu verstehen – insbesondere Schwierigkeiten in der Perspektivübernahme und im intuitiven Erfassen fremder Gedanken. Gleichzeitig darf sie nicht als alleinige Erklärung dienen. Autismus ist komplex und vielfältig – ebenso wie die Fähigkeiten und Persönlichkeiten der Menschen, die damit leben. Das Verständnis der Theory of Mind sollte nicht dazu dienen, Defizite zu betonen, sondern Brücken zu bauen: zwischen unterschiedlichen Arten, die Welt wahrzunehmen.

Literaturempfehlungen

  1. Tony Attwood – „Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom“
    Lebensnah, fundiert und sehr zugänglich – besonders zu inneren Erlebenswelten und Theory of Mind.
  2. Simon Baron-Cohen – „Mindblindness: An Essay on Autism and Theory of Mind“
    Der klassische wissenschaftliche Ansatz, der das Konzept mit Autismus verknüpfte.
  3. Uta Frith – „Autism: Explaining the Enigma“
    Eine verständliche Einführung in die kognitive Psychologie des Autismus.
  4. Peter Vermeulen – „Autismus und Theorie des Geistes“
    Praxisnah mit vielen Beispielen und auch kritischen Reflexionen zur ToM-Hypothese.
  5. Damian Milton – „The Double Empathy Problem“ (Fachartikel)
    Ein moderner, wechselseitiger Blick auf Empathie und Missverständnisse.
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