Trainspotting, Sonderzügen und die Deutsche Bahn:  Sonderinteressen im Autismus-Spektrum

Spezialinteressen bei Menschen im Autismus-Spektrum können sehr vielfältig sein: Anime, bestimmte Kulturen, Star Wars – und besonders häufig ein großes Interesse an Zügen. Ich habe mehrere Autisten mit einem ausgeprägten Interesse an der Deutschen Bahn und Trainspotting betreut – eine Aktivität, bei der Menschen gezielt Bahnhöfe aufsuchen, um Züge zu beobachten, zu fotografieren oder auf besondere Sonderzüge zu warten.

Für viele Menschen mit Autismus ist ein solches Sonderinteresse an Zügen mehr als nur ein Hobby. Es gibt Struktur, Sicherheit und Orientierung in einer Welt, die oft für sie chaotisch und unvorhersehbar wirkt. Gleichzeitig kann es – wie jedes Spezialinteresse – herausfordernd werden, wenn der Alltag vollständig davon bestimmt wird, zum Beispiel wenn Beruf oder soziale Kontakte zu kurz kommen.

Trotzdem überwiegen oft die positiven Seiten. Durch das gemeinsame Hobby entstehen neue Kontakte und echte Freundschaften – gerade für Menschen im Autismus-Spektrum, für die soziale Interaktionen manchmal schwierig sind. Ein geteiltes Interesse wie das an der Deutschen Bahn verbindet – auf Augenhöhe, mit echtem Verständnis füreinander.

Warum haben Autisten ausgeprägte Sonderinteressen?

Sonderinteressen – auch Spezialinteressen oder intensive Interessen genannt – sind ein zentrales Merkmal im Autismus-Spektrum. Sie sind nicht nur häufig, sondern auch außergewöhnlich tief und leidenschaftlich. Studien und Fachliteratur zeigen, dass diese Interessen nicht zufällig entstehen, sondern neurobiologische und psychologische Hintergründe haben:

1. Struktur und Vorhersehbarkeit

Viele Autisten empfinden den Alltag als unvorhersehbar oder überfordernd. Ein Spezialinteresse – etwa die Deutsche Bahn – bietet klare Strukturen, Regeln und Wiederholungen. Es vermittelt Sicherheit und Kontrolle in einer komplexen Welt.

2. Detailverliebtheit und Informationsverarbeitung

Autistische Menschen nehmen oft Details besonders genau wahr. Das erklärt, warum sie sich intensiv mit einem Thema beschäftigen und oft Expertenwissen aufbauen. Die sogenannte „Weak Central Coherence“-Theorie beschreibt diese starke Detailfokussierung sehr anschaulich.

3. Freude, Selbstberuhigung und Motivation

Sonderinteressen wirken oft beruhigend und stabilisierend. Sie fördern das emotionale Gleichgewicht und aktivieren das Belohnungssystem im Gehirn. In manchen Studien wird vermutet, dass dabei verstärkt Dopamin ausgeschüttet wird – ähnlich wie bei Flow-Erlebnissen.

4. Kommunikation und soziale Verbindung

Für viele Autisten ist es einfacher, über ihr Spezialthema zu sprechen als über Alltägliches. So kann ein Interesse – z. B. das Trainspotting oder das Sammeln von Fahrplandaten – zur sozialen Brücke werden.

Spezialinteressen geben Struktur, machen Freude und stärken das Selbstwertgefühl. Sie helfen beim Abschalten, beim Kontakteknüpfen und bieten oft einen geschützten Raum, in dem sich autistische Menschen entfalten können. Sie sind kein Defizit – sondern oft eine große Stärke.

Quellen & Studien:

  • Baron-Cohen, S. (2006). The hyper-systemizing, assortative mating theory of autism. Neuropsychopharmacology.
  • Markram, H., & Markram, K. (2007). The Intense World Syndrome – an alternative hypothesis for autism. Frontiers in Neuroscience.
  • American Psychiatric Association (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5. Aufl.)
  • Attwood, T. (2007). Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom. Trias Verlag.
  • Happe, F., & Frith, U. (2006). The weak coherence account: Detail-focused cognitive style in autism. Journal of Autism and Developmental Disorders.
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